Museumskalender 2024 / In die Farbe schneiden
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In die Farbe schneiden
Pablo Picasso und Henri Matisse waren befreundete Konkurrenten oder konkurrierende Freunde. Ihre Konkurrenz ist durch viele historische Quellen gesichert – für ihre Freundschaft gibt es allerdings nur wenige Anhaltspunkte.
Im diesjährigen Kalender liefern sich die beiden großen Matadore der Moderne einen künstlerischen Wettstreit im Medium des Linolschnitts. Dieser Wettstreit ist zugegebenermaßen inszeniert, indem aus den reichen Beständen des Kunstmuseum Pablo Picasso Münster die schönsten Werke beider in dieser Drucktechnik ausgewählt wurden.
Wassily Kandinsky hat einmal über die seine beiden Künstlerkollegen geschrieben: Picasso die Linie und Matisse die Farbe. Der Franzose ist als großer Kolorist in die Kunstgeschichte eingegangen, während der Spanier sich durch die Kraft seiner Linienführung in die Historie eingeschrieben hat. Diese Feststellung mag für die Gesamtwerke beider Gültigkeit beanspruchen, im Medium des Linolschnitts ist sie jedoch einfach zu widerlegen. Hier ist Picasso der virtuose Kolorist und Matisse empfiehlt sich als Großmeister der subtilen Linienführung. In einem theoretischen Text hat Matisse einmal das Führen des Hohleisens beim Linolschnitt mit dem eines Geigenbogens verglichen, der ebenso viel Sensibilität verlange. Als Hobbygeiger wusste der Künstler, wovon er sprach. Diese von ihm beschworene Empfindsamkeit bezeugen seine vor saturiertem schwarzen Bildgrund komponierten Linolschnitte. Die Einstichstellen des Hohleisens in den Bildgrund sind zart und schwellen dann an, bevor sie auslaufend wieder filigraner werden. Matisse‘ zeichnerische Bildsprache ist entschlackt und beschreibt die Gestaltformen durch wenige Konturlinien. „Ich male keine Frau, sondern das Bild einer Frau“ hat Matisse einmal geschrieben und seine Linolschnitte machen deutlich, dass es sich in der Tat um Kunstwesen handelt, die der Franzose in Szene setzt. Der einzige Mann in diesem Reigen typisierter Frauengestalten ist das mythologische Mischwesen des Minotaurus (Monat September), der bei Matisse im Gegensatz zu Picasso eine sehr menschliche Physiognomie besitzt.
Während Matisse sich der Technik des Linolschnitts in den 40er-Jahren zuwendet, entdeckt Picasso erst Mitte der 50er-Jahre dessen Ausdrucksmöglichkeiten für sich. Er findet hier eine ästhetische Verbindung aus der Präzision der Linien, die er mit farbig reich orchestrierten Flächen verbindet.
In seinen Stillleben inszeniert Picasso insbesondere die Lichtquellen, indem er radiale Strahlenbündel von den Glühbirnen gestaltet. Im Falle des Februar-Blattes hält er die Komposition in erdig-dunkler Farbigkeit, während er bei den April- und Oktober-Blättern ein plakativ-grelles Kolorit bevorzugt. Die subtilen Brechungen des Lichts werden hier auch an den Gläsern durchexerziert.
Der späte Picasso variiert häufig die Meisterwerke der Kunstgeschichte, indem er ihnen seinen stilistischen Stempel aufdrückt. So verfährt er auch im Falle des Frühstücks im Grünen (Monat August), eine freie Variation nach einem Skandalbild von Edouard Manet aus dem Jahre 1863. Der damalige Skandal bestand darin, dass das Gemälde lockere zeitgenössische Sitten bildwürdig macht. So stellt es eine unbekleidete junge Dame in Gegenwart zweier dandyhafter Studenten bei einem ausgelassenen Picknick dar. Picasso läutert die Komposition, lässt einen der beiden Studenten ganz wegfallen und fügt dem Ganzen am rechten Bildrand eine kleine Eule hinzu – ein motivischer Hinweis auf seine Autorschaft, denn das Tier wird ab 1946 eine Art Wappentier des Spaniers. Spotlight-artig artikulieren sich die in rot-gelber Farbigkeit gehaltenen Figuren vor der grünen Landschaftskulisse. Der Linolschnitt ist Teil einer kolossalen Variationsfolge von fast 30 Gemälden und über 100 Zeichnungen, die Picasso dem berühmten Gemälde, das heute im Pariser Musée d’Orsay hängt, widmete.
Für die Künstlerfamilie Cranach hegte Picasso große Bewunderung. Diese bricht sich in seinem wohl berühmtesten Linolschnitt Bahn – dem Porträt eines jungen Mädchens, nach Cranach dem Jüngeren. II (Monat Dezember). Der Künstler kannte das Gemälde lediglich durch eine Postkarte, die ihm sein Kunsthändler Kahnweiler aus Wien geschickt hatte. Wieder macht er aus Fremdem Eigenes, indem er dem Werk den Prägestempel seiner Bildsprache aufdrückt. So vereint er in spätkubistischer Manier die Profil- und En face-Ansicht im Gesicht der noblen Dame. Der in fünf Farben ausgeführt Linolschnitt aus dem Sommer 1958 gilt als unangefochtener Höhepunkt von Picassos Beschäftigung mit dem Linolschnitt.